sensibles und herzvolles Zusammenspiel aus Kunst, Pflegekinder und Erwachsenwerden
Mit Mara Schnellbachs Own-Voice-Roman Allow A Sunflower to Bloom über das Leben von Pflegekindern hat sie etwas Besonderes geschaffen: ein sensibles und herzvolles Zusammenspiel aus Kunst, Mental Health ...
Mit Mara Schnellbachs Own-Voice-Roman Allow A Sunflower to Bloom über das Leben von Pflegekindern hat sie etwas Besonderes geschaffen: ein sensibles und herzvolles Zusammenspiel aus Kunst, Mental Health und Erwachsenwerden, das tief ins Herz trifft und sich wie eine warme Umarmung ums Herz legt. Die Handlung spielt im Sommer, was sich auch im tiefblauen Cover mit Sonnenblumen widerspiegelt. Zu den zentralen Tropes zählen Found Family, Slow Burn, Forced Proximity und eine Prise Fake Dating.
Die Verbindung von bildender Kunst und Poesie zeigt sich in jedem Kapitel, das der Erzählung der Geschichte eine besondere ästhetische Dimension verleiht: Jedes Kapitel trägt den Titel eines bekannten Gemäldes, dessen Schöpfer im einleitenden Absatz genannt wird. Die perfekt stimmenden gewählten Werke spiegeln sich auf subtile Weise in den Gefühlen und Gedanken von Emmee und Casimir wider. So bleiben die kunsthistorischen Bezüge nicht nur dekorativ, sondern lassen sich zu jedem Kapitel ein zentrales Gefühl zuordnen, das in den Vordergrund gerückt und erzählerisch ausgearbeitet wird. Auf diese Weise ermöglicht es den Leser*innen die inneren Bewegungen der Figuren nicht nur zu verstehen, sondern auch tief mitzufühlen. Genau diese Intensität macht das Buch so besonders.
Am Ende des Buches findet sich ein Anhang aller Kapitelüberschriften, jeweils ergänzt mit dem Titel des Kunstwerks, den Namen des Künstlers, dem Entstehungsjahr sowie dem aktuellen Standort oder Standorte des Originals. Diese Übersicht bietet eine wertvolle Ergänzung und vertieft den kunsthistorischen Kontext der Erzählung.
Da es sich um sensible Themen handelt, gibt es auf der letzten Seite des Buches eine Info zu Triggerwarnungen. Aufgelistet werden traumatische Erfahrungen von Pflegekindern und das System des Jugendamts, Panikattacken, körperliche und psychische Gewalt, toxisches Verhalten in Beziehungen (Ehe und Erziehung), Tod und Trauer, chronische Erkrankung und Schizophrenie und psychotische Episoden. Die Triggerwarnungen in diesem Buch greifen Themen auf, die in der Literatur noch immer selten behandelt werden, obwohl sie im echten Leben eine wichtige Rolle spielen. Mara gelingt es, das Thema Pflegekinder und die oft komplexen Strukturen des Jugendamts in eine authentische, feinfühlige Erzählung zu verpacken.
Im Mittelpunkt steht Emmee, die seit ihrer Kindheit mit ihrer Schwester Madita in einer Pflegefamilie lebt. Ihre Gedanken- und Gefühlswelt wird mit großer Tiefe und viel Empathie dargestellt. Die Gespräche zwischen den beiden sind so lebendig geschrieben, dass ich diese Szenen sehr gerne gelesen und die beiden so sehr ins Herz geschlossen habe. Auch ihr Alltag in der WG ist von inneren Konflikten geprägt. Denn Emmee hat einen großen Wunsch: Sie möchte ihre leibliche Mutter finden. Doch das beschäftigt sie mehr als sie zeigen will. Alles, was sie von ihr kennt, ist eine abstrakte Verbindung zur Kunst - eine Kunstgefühlsliebe. Von ihrem leiblichen Vater bleibt ihr nur die Erinnerung einer gezeichneten Sonnenblume auf ihrem Handgelenk, doch er meldet sich plötzlich unerwartet. Besonders berührend ist die liebevolle Beziehung zu ihren Pflegeeltern, geprägt von voller Wärme, Verständnis und stiller tiefen Liebe. Manche Szenen haben mich tief bewegt und zu Tränen gerührt, da Emmee und Madita beide gezweifelt haben, dass sie nicht von ihren Pflegeeltern geliebt werden und den Wunsch nach Antworten haben, warum sie von ihren leiblichen Eltern abgestoßen wurden. Dieses Buch vermittelt auf leise, aber auch kraftvolle Weise, dass Pflegekinder gesehen und verstanden werden sollten – und dass sie niemals das Gefühl haben dürfen, allein zu sein.
In ihrem WG-Alltag beginnt Emmee neue Freundschaften aufzubauen – unter anderem zu ihrer Mitbewohnerin Frieda, die sich schnell als aufmerksame Zuhörerin und verlässliche Freundin erweist. Ihre Verbindung wächst im Laufe der Handlung, getragen von Offenheit und gegenseitigem Vertrauen. Über ihren Mitbewohner Xavier lernt Emmee schließlich Casimir kennen - Xaviers Bruder, der auf den ersten Blick das genaue Gegenteil von ihm zu sein scheint. Mara beschreibt das erste Aufeinandertreffen von Emmee und Casimir mit Charme und einer gewissen Unbeschwertheit. Ihre Begegnungen wirken zunächst beiläufig, doch schnell wird spürbar, dass zwischen ihnen eine besondere Verbindung entsteht. Beide lieben Kunst. Beide reden nicht viel, aber ihre Zurückhaltung lässt Raum für echte Nähe. In ihren Gesprächen steckt eine stille Ehrlichkeit – sie sprechen nicht alles aus, und doch versteht man, was sie einander bedeuten. Ihre Worte sind klar, manchmal direkt, oft vorsichtig, aber immer aufrichtig. So entsteht ein Miteinander, das trotz aller Unsicherheiten Halt gibt. Doch auch die Schattenseiten des Lebens werden nicht ausgelassen. Bereits im zweiten Kapitel mit der Überschrift Das Eismeer, wird deutlich, dass Casimir und Xavier in einem familiären Umfeld aufgewachsen sind, das von körperlicher und psychischer Gewalt geprägt ist. Diese Kapitel im Buch sind schwer zu lesen – nicht wegen ihrer sprachlichen Schwere, sondern weil sie ein Gefühl der Beklemmung hinterlassen. Man liest mit angespannt, möchte eingreifen, widersprechen, schreien. Dass Mara dieses Thema aufgreift, ist mutig und notwendig, denn das spiegelt die Realität wider. Laut dem Bundesministerium wurden allein im Jahr 2023 in Deutschland 256.276 Menschen Opfer häuslicher Gewalt.
Casimir und Xavier stammen aus einer wohlhabenden Familie, in der Strenge und Distanz den Alltag bestimmen. Besonders der Vater verkörpert Kälte und Kontrolle - ein Mann, der kaum Gefühle zeigt und seine Autorität durch Druck und Gewalt durchsetzt. Sowohl Xavier als auch seine Mutter sind immer wieder Ziel seiner Ausbrüche, weshalb die Brüder das Elternhaus so früh wie möglich verlassen haben. In ihrer gemeinsamen WG finden sie zum ersten Mal ein Stück Freiheit, weg vom Druck und Kontrolle und spielt seinem Vater und Mutter das Leben vor, wie er es für die beiden vorgesehen hat: Casimir soll studieren, in einer teuren Wohnung in Wien leben und eine feste Freundin haben. Doch Casimir widersetzt sich diesen Erwartungen. Statt an der Universität zu sitzen, arbeitet er in der Kunstdimension Wien, einem Museum, das für ihn mehr als nur ein Arbeitsplatz ist – es ist sein Rückzugsort, sein Ausdruck von Freiheit. Die Kunst bedeutet ihm alles. Tragisch ist, dass das Museum vor einer ungewissen Zukunft steht: Es muss renoviert werden, und ohne ausreichende Fördergelder droht die Schließung im kommenden Sommer. Ironischerweise könnten ausgerechnet seine Eltern helfen, da deren Einfluss in der Wiener Kulturszene groß ist.
Um die Illusion seines vom Vater strikten Lebens aufrechtzuerhalten, entschließt sich Casimir im Verlauf der Handlung, Emmee als seine feste Freundin vorzustellen. In dieser Handlung erhält der klassische Trope Fake Dating eine besondere Tiefe, den Mara feinfühlig und glaubwürdig integriert und verleiht dem Trope zugleich einen ernsten Unterton. Hier zeigt Mara, dass der Trope neu kontextualisiert werden kann. Es ist ein Symbol für den Kampf um Selbstbestimmung. Das Fake Dating kann man aber auch als Schutzstrategie sehen, da Casimir damit versucht, den Druck und die Kontrolle seines Vaters abzuwehren und seine wahre Lebensrealität - das Arbeiten im Museum und das Wohnen in der WG - zu verbergen. So zeigt der Trope als literarisches Mittel, um die Befreiung von familiären Zwängen zu erzählen und die Suche nach einem selbstbestimmten Leben hervorzuheben. Im weiteren Verlauf der Handlung wird dargestellt, wie Casimir und Xavier den Mut entwickeln, sich von den Erwartungen ihrer Eltern zu lösen.
:SPOILER ENDE:
Mara gelingt es, diese komplexen Spannungsfelder über Pflegeeltern und physische Gewalt eindringlich mit Schärfe, Zerrissenheit und Feingefühl zu signalisieren und präsentieren. Allow a Sunflower to Bloom ist an alle gerichtet: „Für diejenigen, die Angst haben mit allem, was sie ausmacht zu lieben und gleichzeitig so viel fühlen, dass es irgendwann überschwappt.“, so Mara in ihrem Releasepost. So zeigt Mara, dass Literatur Räume schafft – nicht, um der Realität zu entfliehen, sondern um ihr zu begegnen, sie zu verstehen und zu fühlen. Zugleich bietet sie einen Zufluchtsort in den Gedanken und Gefühlen der Figuren – und genau darin liegt ihre wahre Kraft.