Queerer Zeitreise-Young-Adult mit wichtigen Themen.
Pride und Prejudice und PittsburghZugegeben, historische Romane gehören eher selten in meine Read-List, aber eine Zeitreise-Story, in der Selbstfindung, der Kampf um die eigene Freiheit, eine seichte Sapphic-Romanze und Opposites-Attract ...
Zugegeben, historische Romane gehören eher selten in meine Read-List, aber eine Zeitreise-Story, in der Selbstfindung, der Kampf um die eigene Freiheit, eine seichte Sapphic-Romanze und Opposites-Attract eine gewichtige Rolle spielen? Nun, her damit!
2023
Seit Audrey Cameron von ihrer ersten Liebe verlassen wurde, ihr Traum, an einer renommierten Kunstakademie zu studieren, in der Schwebe hängt und auch ihre Inspiration – vielleicht sogar ihre Leidenschaft – abhanden kam, läuft das Leben der Schülerin auf Autopilot. Neben dem Unterricht, Hund Cooper und der Arbeit in dem kleinen Laden ihrer Eltern bleibt für Audrey nichts. Außer Leere. Monotonie. Resignation. Dabei war ihr Pittsburgh immer zu klein, zu eng; dabei wollte sie immer mehr.
1812
Nur noch ein paar Monate bleiben Lucy Sinclair, bis sie in die Ehe gedrängt, bis ihr Wohlergehen von einem weiteren Mann abhängig sein wird. Jede Minute, die der Graf dem Anwesen Radcliffe fern ist, kommt der 18-Jährigen wie ein Hauch Freiheit, ein Stück Himmel vor. Raum, um mit Martha zu scherzen, um mit Grace zu tratschen.
Denn für ihren Vater war sie nie mehr als eine Investition, die es zu formen und gewinnbringend zu verkaufen galt.
Mr. Montgomery ist es, der das Unmögliche möglich macht und diese unterschiedlichen Lebensstränge verknüpft. Der Audrey aus ihrer Sicherheit, ihrer Blase reißt und Lucy zeigt, dass alles möglich sein könnte … Denn Glück, Erfahrungen, Inspiration und Träume finden wir nicht drinnen, nicht im Immergleich, sondern draußen, anderswo, genau wie die Liebe …
„Pride und Prejudice und Pittsburgh" ist ein Young-Adult-Roman, der passend zur Zielgruppe einfach und verständlich geschrieben wurde. Dennoch verleiht Lippincott den jeweiligen Perspektiven eine eigene Note und damit Authentizität.
Sind Audreys Kapitel eher umgangssprachlich und salopp gehalten, übertünchen Selbstbewusstsein und Sarkasmus doch nicht die Angst, für immer festzustecken, die Wut darüber, planlos im frühen 19. Jahrhundert herumstolpern, sich in Korsetts pressen, knicksen zu müssen.
Lucy – ernster, formeller – hat gelernt, Gefühlsregungen und Sehnsüchte unter Verschluss zu halten, stoisch zu nicken, sich zu fügen. Dass eine wilde Fremde binnen weniger Wochen ihre sorgsam errichtete Mauer niederreißt, sie hoffen lässt, kann die vorbildliche Lady, kurz vor ihrer Hochzeit, kurz bevor sie von einem ins andere Gefängnis geschoben wird, gar nicht gebrauchen – und hat doch nie mehr gebraucht.
Während Lucy Audrey darauf vorbereitet, sich in die gehobene Gesellschaft einzufügen, sich zu verlieben – denn was sonst sollte ihre Aufgabe hier sein, hier 200 Jahre in der Vergangenheit? –, lockt Audrey Lucy aus der Reserve, weckt in ihr befristete Verwegenheit. Und Funken. Jene Funken, nach denen beide so unbedingt lechzen, Funken, die ein Feuer werden könnten – wären da nur nicht die strengen Konventionen der Regency-Zeit, der nahende Skandal und der Umstand, dass Miss Cameron nicht hierhergehört.
∞„Vielleicht ging es ja gar nicht darum, die wahre Liebe zu finden, sondern bloß darum, mir klarzumachen, (...) Dass ich nach einem gebrochenen Herzen wieder lieben kann.“
Die Autorin macht es den LeserInnen leicht, sich in die Figuren, ihre Situationen und Gedanken hineinzuversetzen, ihre Unsicherheiten und Ängste, das Ausbrechen zarter Schmetterlinge, heimliche Sehnsüchte und unbekannte Empfindungen zu sehen.
Nahbar, nicht frei von Missverständnissen, von kurz mutig sein und Zögern verlief die sachte romantische Entwicklung. Gerade Lucys Inneres, hin und her gerissen zwischen Ausweglosigkeit und manierlichem Verhalten, dem Wunsch, auszubrechen, zu rebellieren, frei zu sein, endlich zu fühlen – in Audreys Welt, einer, die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung predigt, zu existieren –, war berührend.
Sowohl der abwechslungsreiche Verlauf als auch das Setting, die Bälle und die Versuche, die Zeitreisende für das andere Geschlecht interessant zu machen – was definitiv funktionierte! – kamen lebendig, manchesmal mit Witz untermalt, zur Geltung. Ein weiterer Pluspunkt sind die Nebenfiguren: James, Mr. Shepherd und Alexander – Junggesellen, die mir gerne den Hof machen dürften – über Mr. Sinclair und Mr. Caldwell, Männer, deren Einstellung die Jahrhunderte leider überdauerte und nicht mehr als Abscheu erzeugt.
Obgleich es viele melancholische, wehmütige Szenen gab – vor allem mit Blick auf die strengen Regeln des frühen 19. Jahrhunderts, die Stimmlosigkeit der Frau –, seicht knisternde Wohlfühl-Momente, hält dieses Buch Romantik, Charme, Humor und Tiefe, Stoff zum Nachdenken, bereit. Themen, die für die Zielgruppe ebenso relevant sind wie für ältere Lesende. Eine Erinnerung daran, dass sich die Zeiten verändert haben. Wir heute zwar ohne Ballkleider, pompöse Festivitäten und schicke Anwesen leben, dafür mit Rechten, Privilegien, Unabhängigkeit – und Technik. Rachel Lippincott schreibt von TeenagerInnen-Strugglen, dem ersten Herzschmerz, Zukunftsorgen und Perspektivlosigkeit, von der Angst, außerhalb der Komfortzone (wieder) verletzt zu werden, zu scheitern. Von den Risiken, die Veränderungen und Wagnisse, Laut werden mit sich bringen – und von den vielen Möglichkeiten. Die draußen warten.
Selbstfindung und ‑bestimmung, Coming-out, Neuanfänge, sich endlich trauen werden mitsamt zahlreichen Erkenntnissen, charakterlichen Entwicklungen und überraschenden Wendungen großgeschrieben. Und das alles ummantelt von Bridgerton-Flair.
»Manchmal kümmert sich Liebe – echte Liebe – einfach nicht darum, was anständig ist oder was die Leute denken. Sie findet einen, wenn man sie am wenigsten erwartet (...)«
Ich habe das Buch in einem Rutsch gelesen und kann es von Herzen all jenen empfehlen, die eine kurze Auszeit vom Alltag brauchen, sich in der Regency-Epoche verlieren wollen, nach Hoffnung und einem Funken Magie suchen.