Cover-Bild Der ehemalige Sohn
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23,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Diogenes
  • Themenbereich: Belletristik - Belletristik: zeitgenössisch
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Seitenzahl: 320
  • Ersterscheinung: 24.03.2021
  • ISBN: 9783257071566
Sasha Filipenko

Der ehemalige Sohn

Ruth Altenhofer (Übersetzer)

Eigentlich sollte der junge Franzisk Cello üben fürs Konservatorium, doch lieber genießt er das Leben in Minsk. Auf dem Weg zu einem Rockkonzert verunfallt er schwer und fällt ins Koma. Alle, seine Eltern, seine Freundin, die Ärzte, geben ihn auf. Nur seine Großmutter ist überzeugt, dass er eines Tages wieder die Augen öffnen wird. Und nach einem Jahrzehnt geschieht das auch. Aber Zisk erwacht in einem Land, das in der Zeit eingefroren scheint. Wie fühlt sich ein junger, lebenshungriger Mann in Belarus? Eine hochaktuelle Geschichte über die Sehnsucht nach Freiheit.

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 08.04.2021

Ein Land im Koma

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Menschen, die jahrelang im Koma lagen, müssen sich, sollten sie aufwachen, an vieles Neue gewöhnen - Technologien haben sich weiterentwickelt, die Gesellschaft hat sich verändert. Nicht so im Fall von ...

Menschen, die jahrelang im Koma lagen, müssen sich, sollten sie aufwachen, an vieles Neue gewöhnen - Technologien haben sich weiterentwickelt, die Gesellschaft hat sich verändert. Nicht so im Fall von Franzisk, dem Protagonisten von Sasha Filipenkos Roman "Der ehemalige Sohn". Das Belarus, in dem Franzisk nach zehn Jahren im Koma als 26-jähriger aufwacht, erinnert eher an die Sowjetrepublik seiner Kindheit. Eine eingefrorene, erstarrte Gesellschaft, ein Land, das selbst komatös erscheint. Die Zeit scheint stehengeblieben.

Filipenko hat mich als Autor bereits mit seinem Roman "Rote Kreuze" beeindruckt über die Freundschaft zwischen einem jungen alleinerziehenden Vater und einer unter Demenz leidenden alten Frau, die ihre Erinnerungen an die Schrecken des Stalinismus weitergeben will. "Der ehemalige Sohn" stammt zwar aus dem Jahr 2014, ist aber angesichts der Ereignisse in Belarus und der Betrachtungen über das Regime des Langzeitpräsidenten Lukaschenko - der im Buch nicht namentlich genannt wird - hochaktuell.

"Der ehemalige Sohn" erzählt die Geschichte von Franzisk, der von seiner resoluten Großmutter aufgezogen wird und in einer Unterführung in eine Massenpanik gerät. Zehn Jahre liegt er im Koma, die Ärzte haben ihn schon längst aufgegeben, selbst die eigene Mutter ist weitergezogen, hat ausgerechnet den Chefarzt der Klinik geheiratet und eine neue Familie gegründet. Nur die Großmutter kämpft unermüdlich um die lebenserhaltenden Maßnahmen für Franzisk, besucht ihn ständig, spricht zu ihm. Das Wunder erlebt sie nicht mehr: Franzisk erwacht einen Tag nach ihrem Tod aus dem Koma, erholt sich überraschend schnell, auch wenn er anfangs wie als Symbol der Desorientierung ein Gemisch aus Russisch und Weißrussisch spricht.

Ein Schulfreund versucht, ihn up to date zu bringen - doch je mehr er erzählt, desto weniger versteht Franzisk: "Wahrscheinlich war es besser, im Westen aus dem Koma zu erwachen. In einem kleinen Land, wo alles klar und vernünftig war. Wo die Ereignisse der Logik entsprachen und dem jahrhundertelangen Lauf der Dinge. Was Stass erzählte, war nicht annehmbar, nicht begreifbar. Das wollte alles nicht in seinen Kopf hinein."

Im Hof von Franzisks Wohnhaus spielen die Kinder "Proteste zerschlagen". Die Polizei hat selbst dem im Koma liegenden Fingerabdrücke genommen für den Fall, dass er sich an einer Oppostionskundgebung teilgenommen hat.

Eine der eindrücklichsten und so sehr an das aktuelle Belarus erinnernden Szenen schildert die Teilnahme der Freunde an einer Oppositionskundgebung, an den Moment der Hoffnung, dass das Land erwacht ist, dass sich doch etwas geändert hat: "Es würde schrecklich werden, aber nicht hinzugehen war keine Option, es war zu spät für einen Rückzug. Das Volk musste der Staatsmacht um jeden Preis zeigen, dass es unzufrieden war, dass sie nichts mehr gemeinsam hatten und es Zeit für eine Trennung war." Es ist ein Demonstrationszug, der selbst die Führer der Opposition überrascht "in diesen verängstigten, an die Wand gefahrenen, in die Ecke gedrängten Land". Und gewiss - der Traum vom Wandel wird brutal zerschlagen.

Mit viel bitterem Humor hat Filipenko sein Buch geschrieben. Belarus ist ein Opfer seiner Geschichte und seiner geografischen Lage, die Geschichte scheint im Kreis zu verlaufen und von der Geopolitik dominiert zu werden. Die postsowjetische Gesellschaft erinnert noch stark an die Zeiten des Imperiums und jeder, der die Welt der östlichen Seite des "Eisernen Vorhangs" erlebt hatte, erkennt vieles wieder. Statt dessen sind neue Formen von Korruption und Ausnutzung hinzugekommen, wie die Beispiele der blutjungen Frauen mit westlichen "Verehrern" zeigen, ob es sich nun um westliche Sextouristen oder Mitarbeiter westlicher Botschaften handelt.

Für Franzisk, der erleben muss, dass selbst in der eigenen Familie sein Platz weitervergeben wurde und er angesichts der Prinzenrolle des kleinen Halbbruders nur noch der ehemalige Sohn ist, bleibt als einziges Ziel die Auswanderung, zu den deutschen Eltern, die seinerzeit angeblich verstrahlten Kindern aus Tschernobyl in den Sommerferien Erholung boten. Seine Erkenntnis: Ein Koma reicht.

Mit "der ehemalige Sohn" hat Filipenko ein Buch geschrieben, das zwar wenig der historischen Hintergründe von Belarus (die in einem Nachwort der Übersetzerin erläutert werden) schildert, aber gewissermaßen Alltag und Seele der Gesellschaft beschreibt. Für Leser, die sich auch für die aktuelle Situation in dem Land interessieren, eine ebenso spannende wie wichtige Lektüre.

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Veröffentlicht am 04.05.2021

Der Autor nimmt kein Blatt vor den Mund

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Zisk ein Jugendlicher, der bei seiner Großmutter lebt und an einer renommierten Kunstschule Musik studiert, wird bei einer Massenpanik so schwer verletzt, dass er 10 Jahre im Koma liegt. In dieser Zeit ...

Zisk ein Jugendlicher, der bei seiner Großmutter lebt und an einer renommierten Kunstschule Musik studiert, wird bei einer Massenpanik so schwer verletzt, dass er 10 Jahre im Koma liegt. In dieser Zeit sind einzig seine Baba und sein Freund Stass an seiner Seite. Seine Mutter hat sich fast komplett von ihm entfremdet, nicht zu letzt wegen eines Arztes, der nicht daran glaubt das Zisk je wieder aufwacht. Zu allem Übel heiratet sie eben jenem Arzt, der die Baba dazu zwingt in eine Miniwohnung zu ziehen und sie aufs übelste beleidigt. Erst nach dem Tod seiner Baba wacht Zisk auf und sieht sich einem totalitären Regime ausgesetzt, in dem Menschen verschwinden, ermordet und weggesperrt werden. Nachdem er die Willkür bei einer Massendemo hautnah sieht, fasst er einen Entschluss.

Der Autor findet sehr klare Worte und prangert in seinem Roman das rigorose Vorgehen der Politik und die massive Einschränkung der Meinungsfreiheit und Bürgerrechte. Bereits nach den ersten Seiten wird dem Leser klar warum das Buch in Belarus nur unter dem Ladentisch zu haben ist.

Der Autor schafft es mit der Handlung, den Leser die gesellschaftlichen Umstände in Belarus anhand der Geschichte über Zisk und seiner Familie näher zu bringen. Vor allem wie sehr sich die Baba um Zisk bemüht und kümmert und für ihn die Mutterrolle übernimmt, die seine leibliche Mutter nie übernehmen wollte. Besonders dramatisch wird während des Komas, wo die Ärzte ihm am liebsten „einschläfern“ wollten und die Bab wirklich alle ihre Kräfte aufbietet und das die ganzen 10 Jahre, um ihren Enkelsohn zu beschützen. Wirklich schlimm ist dann ein Arzt, der dann auch noch ihr Schwiegersohn wird und sie wirklich aufs übelste beschimpft und moppt. Er quartiert sie in eine Miniwohnung ein. Doch all das erträgt sie für Zisk. Besonders die Szene der Massenpanik, durch die Zisk ja erst ins Koma gefallen ist, schildert der Autor so plastisch, das es einen eiskalt den Rücken runter läuft. Aber das richtig harte Leben beginnt für Zisk erst nach dem Koma, in der Zeit wo er ganz allein zurecht kommen muss, auch wenn seine Baba ihn vorsorglich eine ziemlich gute Brücke gebaut hat. Insgesamt kam mir beim Leser dieses Romans unwillkürlich, die Geschichte über das Leben in der ehemaligen DDR in den Sinn und auch der Gedanke, dass sich staatliche Willkür und Diktatur noch immer auf dieser Erde halten.

Baba, die eine wirklich starke Frau ist und für ihren Enkelsohn Zisk kämpft, wie eine Löwin habe ich wirklich ins Herz geschlossen. Vor allem ihre Weitsicht war beeindruckend. Und Zisk wie er sich ins Leben zurückgekämpft hat und dann aufgewacht ist und das ganze Unrecht nicht mehr ertragen konnte. Und Himmel dieser arrogante egoistische Arzt, der so unsympathisch ist eine Figur, die ich regelrecht gehasst habe. Es war wirklich beeindruckend zu sehen, wie schnell Zisk gezwungen wurde erwachsen zu werden und wie sehr er auf sich alleingestellt war ohne jegliche familiäre Schutzzone.

Fazit: Ein wirklich fesselnder und interessanter Roman, der sehr direkt Probleme anspricht und diese aufzeigt. Einige Figuren wachsen einen unglaublich ans Herz andere könnte man am liebsten aus dem Roman rausschmeißen. Besonders die Anmerkungen der Übersetzerin sind sehr hilfreich. Von mir gibt es eine ganz klare Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 28.04.2021

Nach 10 Jahren Koma erwachen in einer neuen Zeit

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"Du weißt ja, in welchem Land du lebst. Hier sind schon die nichts wert, die gesund sind und am Leben sind, von Menschen im Koma ganz zu schweigen." (Buchauszug)
Franzisk (Zisk) steht kurz vor dem Ende ...

"Du weißt ja, in welchem Land du lebst. Hier sind schon die nichts wert, die gesund sind und am Leben sind, von Menschen im Koma ganz zu schweigen." (Buchauszug)
Franzisk (Zisk) steht kurz vor dem Ende seines Studiums. Er liebt das Leben übt jedoch gerne auch Kritik an der Politik seiner Heimat. Doch eigentlich sollte er eher Cello üben, um nachher eine gute Anstellung zu bekommen. Eines Abends wartet er bei der U-Bahn auf Freundin Nastja mit der er zu einem Rockkonzert möchte. Doch an diesem Abend geschieht das Unglück, bei dem Zisk schwer verletzt und ins Koma fällt. Jedoch, selbst wenn ihn die Ärzte, Mutter, Freunde und Nastja aufgeben, seine Großmutter ist sich sicher, das Zisk wieder aufwachen wird. Allerdings werden zehn lange Jahre ins Land ziehen, ehe er wieder seine Augen öffnet. Bis zu dieser Zeit versucht seine Großmutter alles Menschenmögliche für ihn. Dass sich in der Zeit allerdings vieles in Minsk verändert hat, merkt er erst später. Zisk muss nun seinen Platz in der Gesellschaft neu wiederfinden.

Meine Meinung:
Sasha Filipenko zeigt in seinem zweiten Roman anhand des Schicksals von Franzisk das Leben und die politische Lage in Weißrussland (Belarus) auf. Viele Jahre lang wurde dieses Land von der Sowjetunion beherrscht, um danach erneut in einer Diktatur zu enden. Der Autor beschreibt es sogar so: "Sein Heimatland hat viele Jahre in einem lethargischen Schlaf gesteckt, ehe es 2020 endlich aufgewacht ist." Dabei hat ihnen nicht nur die diktatorische russische Politik im Laufe dieser Zeit geschadet, sondern ebenso die der nachfolgende Weißrusslands. Ihre Diktatur ändert sich nämlich 1991 nicht mit der Selbstständigkeit. Gerade diese Politik wird hier in dem Buch recht deutlich aufgezeigt und das allen Kritikern zum Trotz. Dass die alte Diktatur Lukaschenko mit der jetzigen Generation nicht mehr zurechtkommt, kann ich gut verstehen. Das jedoch viele Seiten seines Buchs, das er 2014 geschrieben hat, später Wirklichkeit werden, damit hatte selbst Filipenko nicht gerechnet. Der tragische Unfall bzw. die Massenpanik in der U-Bahnstation, bei der Franzisk im Koma landet, gab es wirklich. 1999 kam es nämlich nachdem Ende eines Rockkonzerts in Minsk wirklich zu einer Massenpanik. Insgesamt wurden dabei 54 Menschen getötet, darunter vor allem viele junge Frauen unter 17 Jahren. Filipenko nimmt selbst hier kein Blatt vor den Mund. Er schildert dieses Ereignis wirklich so dramatisch und realistisch, sodass ich dachte, ich bin mittendrin in dem Geschehen. Und er klagt sogar die Verantwortlichen an. Was die politische Lage Weißrusslands anbelangt, war ich teils etwas überfordert, da ich zu wenig über dieses Land wusste. Doch dank dieses Buchs verstehe ich nun deutlich mehr über die Zusammenhänge und die Diktatur Weißrusslands. Mir scheint, dass sich in diesem Land auch nach der Selbstständigkeit politisch nicht viel geändert hat. Zisk spürt wie die Frustration und Resignation in seinem Land zugenommen haben. 2020 kommt es dann jedoch zu Protesten und Streiks, bei denen es zu über 6700 Verhaftungen gab und die ebenfalls hier sehr detailliert beschrieben werden. Weißrussland gilt weiterhin nach Russland als das Land, in dem man die sowjetische Vergangenheit am deutlichsten spürt. Das Filipenko mit seinem Buch bei einigen aneckt, kann ich gut nachvollziehen. Nachdem ich es jetzt gelesen habe, begreife ich, warum er die Zustände Belarus sich hier von der Seele schreiben wollte. Sprachlich jedoch hat mich nicht alles überzeugt. Gar nicht zugesagt haben mir die harten, teils ordinären Aussprüche und die lieblose Mutter, die von ihrem Sohn gar nichts wissen wollte. Unrealistisch empfand ich, dass die Ärzte einen selbstständig atmenden Patienten am liebsten aufgegeben hätten. Wäre da nicht eine so tolle Großmutter gewesen, die täglich für ihren Enkel kämpft, hätte Zisk das nicht überlebt. Fragwürdig finde ich außerdem, das Zisk nach seinem Erwachen aus dem Koma innerhalb 6 Monaten alles wieder erlernt hat. Deshalb gebe ich diesem Buch 4 von 5 Sterne.

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Veröffentlicht am 26.04.2021

Stagnation von Mensch und Land

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Wenn man nach 10 Jahren in sein Land wiederkehrt, sollte sich generell einiges geändert haben – aber nicht in Belarus. Als der 16-jährige Franzisk Lukitsch nach 10 Jahren Koma wie durch ein Wunder wieder ...

Wenn man nach 10 Jahren in sein Land wiederkehrt, sollte sich generell einiges geändert haben – aber nicht in Belarus. Als der 16-jährige Franzisk Lukitsch nach 10 Jahren Koma wie durch ein Wunder wieder erwacht, sieht er ein Land, das wie er im Koma gelegen hat und sich nichts an den brutalen Repressalien verändert hat. Im Gegenteil, manches ist sogar noch dramatischer geworden wie willkürliche Verhaftungen und die Gleichschaltung der Medienlandschaft.

„Wie die Vögel flogen die Tage fort. Einer nach dem anderen, scharenweise, um nicht mehr wiederzukehren.“ S. 116

Eine Massenpanik in der U-Bahn-Station hat den jungen Cello-Schüler des Lyzeums brutal aus dem Leben und in das Koma gerissen. Alle außer seiner kämpferischen und renitenten Babuschka Elvira haben ihn aufgegeben – die Großmutter hat den zähen Willen, ihren Enkel durch Erzählungen, Vorspielen und weiteren Mitteln aus dem Koma zu holen. Immer wieder lässt sie sich was Neues einfallen. Zisks Mutter schmiedet derweil andere Pläne und heiratet den Chefarzt – den Sohn geben sie auf, was zählt ist Reichtum und Karriere. Die langen Monologe an Zisks Krankenbett durch einige Besucher sind ein raffinierter Kniff des Autors Sasha Filipenko: Durch diese setzt sich ein breit gefächertes Bild von Belarus und seinen Menschen zusammen – die Monologe lassen tief in die menschlichen Seelen und Abgründe, aber auch in den Alltag eines autoritär regierten Landes blicken. Nachdem Zisk aus dem Koma erwacht, steht ihm sein Freund Stass zur Seite und erklärt ihm viele Umstände, aber auch seine innere Zerrissenheit. Bei einer der ersten großen Demos in Minsk am Wahlabend spüren sie die Euphorie der Massen, denken, dass sich jetzt einiges verändern wird – doch das Regime schlägt gnadenlos zurück und übt Vergeltung an den Demonstranten.

„Die Luft dieser Stadt, die schon vor Zisk ins Koma gesunken war.“ S. 124

„Der ehemalige Sohn“ ist Filipenkos Debüt und jetzt erst auf Deutsch erschienen – laut Angaben des Autors ist es in Belarus nur unter der Ladentheke zu erhalten. Kein Wunder, liest sich die dichte Geschichte als literarischer Angriff auf das Regime und seine brutalen Absurditäten – bitterernst und gleichzeitig mit tief schwarzem Humor. Filipenko ist sein versiertes Handwerk als Gag-Schreiber für ein Satire-TV-Magazin reichlich anzumerken – und sagt selbst aus, dass man mit Satire das Regime am tiefsten treffen kann: Filipenko zeigt mit satirischer Schärfe das Groteske und Absurde einer Diktatur. Und auch Europa, dass sich laut Filipenko aus der humanitären Katastrophe in Weißrussland raushält, bekommt sein Fett weg.

„Das ganze Land schläft, also schlaf auch du ruhig weiter.“ S. 155/156

Die Zeitspanne des Romans umfasst die Jahre 1999 bis 2011, Filipenko lässt zudem zahlreiche wahre Begebenheiten wie die Massenpanik mit vielen Toten im Jahr 1999, die Präsidentschaftswahlen sowie die Bombenanschläge in Minsk einfließen – ein Nachwort der Übersetzerin erläutert am Ende umfangreich die Umstände und ermöglicht eine präzisere Einordnung des politischen Romans, der sich allegorisch auf Belarus’ derzeitigen Zustand liest, obwohl er schon einige Jahre zuvor entstanden ist. Fein eingewobene Songtexte und Traditionen des Landes erzeugen viel Atmosphäre.

„Wir leben im besten Land für erwachende Komapatienten. Hier ändert sich absolut nichts. Egal, wie lang sie im Koma liegen.“ S. 196

Ein erschütternder, bewegender und politisch kämpferischer Roman, der stellenweise nicht einfach zu lesen ist – lange Monologe, satirische Überspitzung und Allegorien in Form von Menschen, die sich sozialkritisch als Systemgegner und Karrieristen einordnen lassen, bremsen manchmal den Lesefluss, regen aber gekonnt zum Nachdenken, Weiterrecherchieren und Einordnen an. Über ein Land in Stagnation, ein korruptes und autoritäres Regime, dass jede Veränderung niederschlägt und ein Europa, dass sich nicht einmischt.

„Gesunde Menschen stellen keine Fragen, und du solltest erst recht keine stellen. Andernfalls kannst du verrückt werden. Vor allem jetzt. Nimm einfach alles als Tatsache hin.“ S. 191

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Veröffentlicht am 26.04.2021

10 Jahre Stillstand

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In diesem Roman beschreibt Sasha Filipenko die politische Situation seines Heimatlandes Belarus sehr eindringlich. Die Ausweglosigkeit für die Menschen wird durch seine Sprache und gewählte Methapern ...

In diesem Roman beschreibt Sasha Filipenko die politische Situation seines Heimatlandes Belarus sehr eindringlich. Die Ausweglosigkeit für die Menschen wird durch seine Sprache und gewählte Methapern schmerzhaft spürbar.
Der junge Franzisk, genannt Zisk, lebt bei seiner Großmutter, die ihn innig liebt. Er besucht ein Konservatorium mit Hauptfach Cello.
Auf dem Weg zu einem Konzert kommt es wegen eines Wolkenbruchs zu einer Massenpanik, die in einer Unterführung mündet. In dem Gedränge sterben viele Menschen, Zisk überlebt schwer verletzt, er fällt ins Koma, aus dem erst nach 10 Jahren erwacht. Ärzte, Mutter und Freunde haben ihn aufgegeben, aber seine Großmutter kämpft für ihn. Eine bewundernswerte, starke und warmherzige Frau, die ihn trotz der Krankheit in alle Geschehnisse mit einbezieht. Über diese Stellen und Monologe, von verschiedenen Besuchern am Krankenbett, erfährt der Leser vieles über das Land. Nach seinem Erwachen verlagert sich die Handlung aus dem Krankenhaus heraus in den belarussischen Alltag.

Filipenko überzeichnet seine Charaktere, jeder steht für sich nicht als Person, sondern für eine Gruppe. Es gibt Mitläufer, Resignierte, Opportunisten, Unterstützer des Regimes, Warmherzige Menschen u.v.m. Dadurch gelingt es ihm, die Gesellschaft und die Situation in der Diktatur gut darzustellen, die Personen selbst bleiben dem Leser aber fern, der politische Aspekt steht im Vordergrund. Zisks und sein Koma stehen als Metapher für das erstarrte Land. „Er schlägt die Augen da auf, wo er sie irgendwann einmal geschlossen hat. Wir erzählten ihm von irgendwelchen Unterschieden, aber im Großen und Ganzen hat sich nichts verändert.“
Die Sprache ist bildhaft und eindringlich, so bekommt man bei der Beschreibung des Gedränges als Leser Platzangst und bei der Zerschlagung einer Demonstration rennt man mit Zisk um sein Leben.
Tatsächlich war mir zuvor nicht viel über Belarus bekannt, es beschränkte sich auf die Nachrichten aus dem letzten Jahr. Filipenko unternimmt hier einen eindringlichen Versuch, der Welt das Schicksal seines Landes nahezubringen, die so wenig Interesse zeigt, es ist die Waffe des Literaten, er will aufmerksam machen und aufklären.
Insgesamt fand ich das Buch interessant und habe es gerne gelesen. Da im Klappentext Vieles schon verraten wurde, litt jedoch die Spannung etwas und der gewählte Stil hielt mich zeitweilig auf Distanz. Für die Hauptpersonen hätte ich mir stärker ausgearbeitete Charaktere gewünscht, die einen ansprechen und mitnehmen.
Trotz der kleinen Mankos eine empfehlenswerte Geschichte, die keine ganz leichte Kost, aber ein gut verarbeitetes Stück Realität und Gesellschaftskritik ist.

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