Unter Glas
T.C. Boyle, der 68-jährige Punk der US-Literatur mit viel Sinn für skurrile Gemeinschaften, befasst sich in seinem neuesten Werk "Die Terranauten" mit der Flucht aus der normalen Biosphäre der Erde zu ...
T.C. Boyle, der 68-jährige Punk der US-Literatur mit viel Sinn für skurrile Gemeinschaften, befasst sich in seinem neuesten Werk "Die Terranauten" mit der Flucht aus der normalen Biosphäre der Erde zu einem Leben unter Glas.
Angelehnt an ein Forschungsprojekt aus den 1990er Jahren, bei dem acht Menschen mit verschiedenen Tier- und Pflanzenarten in eine künstliche Atmosphäre unter Glas in der Wüste Arizonas einzogen, lässt Boyle seine Protagonisten, vier Männer und vier Frauen, in Ecosphere 2 einziehen. Zwei Jahre sollen sie dort leben, sich ausschließlich von den Dingen ernähren, die sie selbst anbauen und erzeugen, genau wie die echten Kolonisten damals.
Das System unter Glas, ein technisches Wunderwerk mit fünf Biomen wie Regenwald, Ozean samt Wellengang, Savanne, Wüste und Anbaufläche auf kleinstem Raum, verlangt seinen Bewohnern harte körperliche Arbeit von früh bis spät ab, um sowohl die Systeme in Gang zu halten als auch ausreichend Nahrungsmittel wie Bananen, Süsskartoffeln, Reis, Milch und selten Fisch und Fleisch zu erzeugen.
Boyle´s Roman setzt kurz vor dem zweiten 2-jährigem Einschluss ein, denn Ecosphere 2 ist für viele aufeinander folgende Einschlüsse mit jeweils 2-Jahresdauer konzipiert.
Nach einem langen Auswahlverfahren ist die Euphorie bei Einschluss unter Glas groß, die Terranauten befinden sich im frenetischen Sinnes- und Sensationstaumel, überzeugt von der wichtigen und guten Sache als Beitrag zum Umweltschutz und zur zukünftigen Kolonialisierung des Weltalls. Nichts rein, nichts raus lautet die Devise, unter keinen Umständen soll der Einschluss vor Ablauf der Zeit unterbrochen werden.
Doch es kommt wie es kommen muss bei derartigen Schicksalsgemeinschaften. Ständig beobachtet von der Projektleitung, von sensationslüsternen Touristen und von Presse und TV, die in dem Megaterrarium eine riesige Reality-Show a la Big Brother sehen, leben die acht Terranauten immer genervter und müssen sich mit Sauerstoffmangel, Nahrungsmittelknappheit und ständiger gewollt-positiver Präsenz in den Medien herumschlagen. Kein freier Tag, keine Privatsphäre, verordnete Freizeitgestaltung, und alles im Dienst der guten Sache fordern ihren Tribut und führen zu Neid, Missgunst, Rivalitäten und handgreiflich ausgetragenem Streit.
Im Roman erzählen drei Stimmen als Ich-Erzähler nach und nach die Geschichte der Mission und der Terranauten rückblickend. Zwei davon sind während des zweiten Einschlusses dabei unter der Glaskuppel, Dawn Chapman als Nutztierwärterin und Ramsay Roothoorp als PR-Spezialist. Die dritte Stimme, Linda Ruy, wurde als Terranaut abgelehnt und steht während des Einschlusses außerhalb der Glaskuppel im Dienst der Mission.
T.C. Boyle legt in seinem Buch großen Wert auf den menschlichen Faktor, auf die Entstehung und die Zuspitzung von Konflikten zwischen den Terranauten unter der Kuppel und zu Personen außerhalb des Einschlusses. Erzählerisch ist es dabei nicht optimal, wenn die Geschichte ausschließlich im Rückblick dargeboten wird, und der Autor schafft es leider nicht, den Berichten der drei Ich-Erzähler dennoch etwas Unmittelbares mitzugeben.
Die einzelnen Berichte lesen sich eher wie sehr viel später ausgegrabene Tagebücher, ein bisschen angestaubt und leider nicht mitreißend. Dass vieles in meinen Augen sehr breit getragen wurde, bevor die Berichte auf den Punkt kommen, sorgen für zusätzliche Gemütlichkeit, wenn nicht gar Geschwätzigkeit.
Das Setting - acht Menschen unter einer Glaskuppel für zwei Jahre eingeschlossen, bietet eigentlich jede Menge Potenzial für die solchen Gemeinschaften in anderer Literatur anhaftender Eigendynamik, aber leider gestalten sich sowohl Persönlichkeiten als auch Situationen ein bisschen wie unter Glas und nur aus der Ferne betrachtbar, vielleicht gewollt.
Das Warten darauf, dass beim Klären von Essensfragen, dem ewig gleichen Tagesablauf und bei kleineren und größeren Reibereien die Situation hochkocht oder gar eskaliert, ist oft umsonst. Und wenn sich ein kleines Drama ereignet hat, sind die Ich-Erzähler schnell damit fertig und gehen zum Tagesgeschäft über.
So auf den ersten ca. 300 Seiten des Romans.
Im zweiten Teil des Buches nimmt die Spannung zwar zu, doch die Figuren bleiben seltsam blass, sowohl die drei Ich-Erzähler als auch die andern Handelnden, zu denen man als Leser fast keinen Bezug bekommen kann.
Ich weiß, dass T.C. Boyle das besser kann. Dennoch ist es ein gut lesbares Buch, das von mit gute 3,5 Sterne verdient. Ich hätte mir mehr Dynamik und Konfrontation und weniger ausschweifende Erzählung und dahinplätschernde Handlung gewünscht.
In der Realität übrigens, in Biosphäre 2 in Arizona, sank während des ersten Einschlusses nach einem halben Jahr der Sauerstoffgehalt bedrohlich, viele der Wirbeltiere starben und die Herrschaft von Kakerlaken und Ameisen sorgte für großen Hunger. Die Mission musste letztlich unterbrochen werden. Der zweite Einschluss verlief besser, doch Streitigkeiten bei den Finanziers beendeten das Projekt im September 1994.