Kurzmeinung:
Delphine De Vigan schafft es auf wenigen Seiten eine große und bewegende Geschichte zu erzählen. Ohne Kitsch und Pathos schreibt sie über schwere Schicksale und erschafft Figuren, die alle ihr Päckchen zu tragen haben und in ihrem Leiden sehr authentisch sind.
Meine Meinung:
Der Roman beschäftigt sich in den Kapiteln abwechselnd mit 3 Personen.
Zunächst ist da Théo, der zu Beginn des Romans fast 13 ist und sich immer weiter in sich zurückzieht, bis er sich schließlich in den Alkohol flüchtet.
Delphine De Vigan liefert eine erschreckende, aber sehr realistische Beschreibung dessen, was mit einem Kind passieren kann, wenn sich die Eltern auf unschöne Weise trennen. Das zwischen den Stühlen Stehen. Es beiden recht machen zu wollen. Das kommt sehr gut rüber. Außerdem muss Théo viel zu viel Verantwortung übernehmen für sein Alter. Beide Eltern sind nicht für ihn da, kümmern sich nicht um ihn. Sind zu beschäftigt mit sich selbst. Im Gegenteil muss Théo sich um sie kümmern, will ihnen alles recht machen. Das alles wird sehr eindrücklich beschrieben. Mehrmals wollte ich die Eltern am liebsten schütteln und anschreien, was sie ihrem Kind da antuen. Wie sie sein stummes Leiden nicht wahrnehmen können. Wollte Théo am liebsten in den Arm nehmen.
Außerdem gibt es Hélène. Die Lehrerin hat in ihrer Kindheit Missbrauchserfahrungen gemacht und ist deswegen besonders wachsam und empfänglich für Anzeichen. Sie ist sehr besorgt um Théo, was schließlich fast schon zur Besessenheit wird. Mehrmals überschreitet sie Grenzen, überwacht zum Beispiel Théos Elternhaus. Sie hat ihre Missbrauchserfahrungen noch nicht verarbeitet und wird durch Théo gewissermaßen retraumatisiert. Alte, schmerzhafte Erinnerungen kommen wieder hoch und sie kann ihre Sorge um Théo schlecht von ihren Erinnerungen abgrenzen. Den Beschützerinstinkt, den sie Théo gegenüber hat, konnte ich als Leserin aber sehr gut nachvollziehen.
Eine weitere Figur ist Cécile, die Mutter von Théos bestem Freund Mathis. Cécile hatte selbst auch keine einfache Kindheit. Sie macht sich Sorgen um ihren Sohn und den vermeintlichen schlechten Einfluss, den Théo auf ihn hat. Außerdem sieht sie sich plötzlich mit einer schrecklichen Dunklen Seite ihres Mannes konfrontiert. Sie macht in dem Buch eine sehr spannende Entwicklung durch und war für mich ein sehr interessanter Charakter, den ich gern verfolgt habe.
Jede der Figuren in der Geschichte leidet, hat ihr Päckchen zu tragen. Bei einem 13-jährigen Junge ist es aber natürlich besonders schwer zu ertragen.
De Vigan erzählt von großem Leid, allerdings in einem eher nüchternen Ton. Sie dramatisiert nicht, schreibt ohne übertriebene Rührseligkeit oder Pathos. Das hat mir gut gefallen und die Schicksale für mich eigentlich noch umso eindrücklicher werden lassen. Die Autorin konfrontiert den Lesenden mit Fragen der Moral. Ist es vertretbar, aus den richtigen Gründen etwas Falsches zu tun? Zum Beispiel Hélène, die aus Sorge um ihren Schülern die Grenzen ihrer Befugnisse überschreitet. Oder Cécile, die aus Sorge um ihren eigenen Sohn die Augen vor dem Leid des jungen Théo verschließt.
Dabei stellt sich dem Lesenden unweigerlich die Frage, was man selbst in dieser Situation tun würde. Dabei gelingt es De Vigan jedoch, ohne erhobenen Zeigefinger zu schreiben sondern wirklich nur unvoreingenommen die Fragen aufzuwerfen und die Situationen ohne Wertung darzustellen.
Sehr gut gefallen hat mir auch, wie sich die Geschichte langsam aufgebaut hat. Schon von Anfang an hatte ich beim Lesen ein unangenehmes Gefühl. Diese dunkle Vorahnung hat sich immer weiter verstärkt, je weiter die Geschichte fortgeschritten ist. Wie in einer Abwärtsspirale werden die Geschehnisse immer dramatischer, spitzen sich immer weiter zu, bis sie schließlich in ihrem dunklen Tiefpunkt münden. Dabei braucht De Vigan nur wenige Seiten, um diesen großen Spannungsbogen aufzubauen und die Ereignisse eskalieren zu lassen. Dennoch wirkt nichts davon überstürzt oder gehetzt.
Fazit:
In diesem Buch steckt noch so viel mehr, als der Klappentext vermuten lässt. Auf wenigen Seiten erzählt Delphin de Vigan eine große und bewegende Geschichte.